Pfuh, da wird einem ganz hübsch warm in der Stalljacke, wenn plötzlich dieses 650 Kilo schwere Centolino-Pferdchen neben mir hektisch wird: Mit seinen eh schon 1,70 Meter Stockmaß verliere ich da schnell mal die Kontrolle, wenn er seinen wuchtigen Kopf – trotz seines kurzen Halses – bis in den Himmel reckt. Da hänge ich am Strick wie eine kleine Fliege …
Kennst du dieses Gefühl? Vielen Pferdemenschen kommen diese Gefühle von Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit sehr bekannt vor.
Wie kann ich in dieser unübersichtlichen Situation jetzt aber rasch wieder die Kontrolle übernehmen, damit die Situation nicht eskaliert und irgendetwas passiert – weder mir noch dem Pferd?
Agieren ist besser als reagieren, so meine ich. Dieser Stress bei Pferden ist nämlich vermeidbar! Zuallererst durch pferdegerechte Haltung, Fütterung und Bewegung. Stimmen diese Komponenten ist schon mal ein großer Anteil an möglichen Stressauslösern ausgemerzt. Aber das setze ich als selbstverständlich voraus. Auch meine Pferde haben hin und wieder Stress, obwohl sie die bestmögliche Haltung und Fütterung bekommen.
Dass Stress bei Pferden eskaliert, ist vermeidbar, wenn wir lernen, bereits auf klitzekleine, subtile Anzeichen von Stress korrekt zu reagieren. Nämlich bereits dann, wenn das Pferd nur als Erstes alarmiert und unsicher ist. Erst wenn dieser Alarmzustand weiter ignoriert wird und nicht adäquat reagiert wird, schaukelt sich im Pferd die Unsicherheit auf und kann bis zu – im schlimmsten Fall – Panik und kopflosem Verhalten führen.
Typische, bekannte Stressanzeichen bei Pferden
- Weit aufgerissene Augen
- Aufgeblähte Nüstern
- Hochgetragener Kopf
- Das Weiße im Augapfel ist zu sehen
- Schweif weit vom Körper getragen, steht ab
- Beine stehen nicht mehr still, Pferd bewegt sich hektisch
- Scharren und Kratzen mit den Hufen, wenn das Pferd angebunden ist
Sind diese Stressanzeichen bei Pferden sichtbar, ist der Stresslevel bereit sehr hoch: Innerlich hat das Pferd bereits seinen gesamten Körper auf den Flucht- oder Kampfmodus umgestellt: Der Körper ist voll mit Adrenalin, das Herz pumpt vermehrt Blut, die Muskeln sind angespannt, alle Sinne sind hochaufmerksam auf die Umgebung gerichtet (Augen aufgerissen, Nüstern gebläht etc.).
Bevor es zu diesen ganz offensichtlichen Stressanzeichen bei Pferden kommt, zeigt ein Pferd bereits mit ganz subtilen und kaum sichtbaren Anzeichen, dass es sich gerade nicht wohl- und vor allem nicht sicher fühlt.
Natürlich muss nicht immer jedes kleinste Wimpernzucken eines Pferdes im Anschluss eine hysterisch überbordene Reaktion zur Folge haben. Aber übersehen wir immer öfter solche dezenten Hinweise auf Stress, wird sich das Pferd immer öfter in hektische und nervöse Reaktionen retten – da es gelernt hat, dass es nur so eine Reaktion des Menschen hervorrufen kann.
Deshalb ist es so wichtig, die Körpersprache der Pferde sehr genau zu lernen und sich viele verschiedene Pferde anzusehen und mit ihnen zu arbeiten – und sei es nur ein gemeinsamer Spaziergang. Über die unterschiedlichen Reaktionen von unterschiedlichen Pferden auf die gleichen Angstauslöser können wir sehr viel lernen.
Während das eine Pferd beim Auffliegen eines Plastiksackerls im Wind hysterisch zur Seite springt und am liebsten umdreht und weggaloppiert, bleibt das eine stocksteif stehen und rührt sich keinen Millimeter mehr – mit weit aufgerissenen Augen und steinharter Muskulatur. Alles bis zur Explosion angespannt.
3 subtile und völlig unterschätzte Stressanzeichen bei Pferden geben aber schon recht früh Aufschluss darüber, dass etwas nicht stimmt. Auf diese sollte man unbedingt reagieren bzw. zumindest seine Aufmerksamkeit auf mögliche auslösende Stressfaktoren ausrichten.
Die 3 am häufigsten unterschätzten, subtilen Stressanzeichen von Pferden sind folgende:
1. unterschätztes Stressanzeichen: "Totenstarre"
Stehen bedeutet nicht gleich Stehen. Steht ein Pferd zum Beispiel vor einem Hänger wie angewurzelt und lässt sich nicht mehr vor- oder zurückbewegen, wird es schnell als „sturer Bock, der keine Lust auf Hängerfahren hat“, abgestempelt.
Stehen bleiben und wie in „Totenstarre“ völlig unbeweglich zu bleiben, ist je nach Pferdetyp ein sehr individueller Ausdruck von Stress. Viele Pferdemenschen verbinden mit einem gestressten, hektisch-nervösen Pferd immer ein Pferd mit fliegenden Hufen, das hysterisch herumrennt und -schreit. Je nach Pferdetyp (vor allem die introvertrierten, schüchternen) kann aber auch genau das Gegenteil ein Ausdruck von Stress und höchster Anspannung sein.
Diese Pferde ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück, machen „die Schotten dicht“ und kapseln sich völlig von den Außenreizen ab, um irgendwie den für sie viel zu hohen Druck und Stress noch aushalten zu können.
Meist sind solche Pferde nicht, wie man denken könnte, in diesem Stehen und Abschalten entspannt. Ganz im Gegenteil: Sie sind höchst gestresst, können die vielen Stressreize nicht mehr verarbeiten und schalten deshalb ihr körperliches System ab, um sich psychisch zurückziehen zu können.
Da diese Pferde in dieser Situation nicht mehr ansprechbar sind, macht es keinen Sinn, mit ihnen in diesem Zustand weiterzuarbeiten. Es braucht ein wenig Übung und Erfahrung, diesen Zustand der „Totenstarre“ von „normalem“ Stehenbleiben zu unterscheiden. Am meisten geraten meiner Erfahrung nach Pferde in diesen Zustand der Totenstarre, wenn sie vor dem Hänger oder anderen Engpässen stehen (dunkle, enge Stallgasse, Untersuchungsstand in Klinken etc.).
2. unterschätztes Stressanzeichen: angespanntes Kinn
Dieses unterschätzte, sehr subtile Stressanzeichen bei Pferden sieht man am meisten am Putzplatz. Viele Pferde wissen, dass sie am Putzplatz stillzustehen und das Putzen über sich ergehen zu lassen haben.
Wusstest du übrigens, dass die Hälfte aller Pferde es hasst, geputzt zu werden? Lies dazu mehr in meinem Blogbeitrag: Schockierende Studie: Die Hälfte aller Pferde hasst Putzen
So traurig das klingt. Ein klares Signal wie ein Ohrenanlegen oder mal ein vorsichtiges Schütteln des Kopfes oder gar ein Schnappen, wenn die harte Bürste am Bauch doch mal wehtut, ist nicht erwünscht. Viele Pferde halten das Putzen deshalb aus und hoffen, dass es rasch vorbeigeht. Was man dann aber dennoch sieht, ist ein enges, kleines Auge – und das angespannte Kinn. Meist ist das Kinn derart angespannt, dass sich die Unterlippe klar absetzt. Das Kinn ist steinhart angespannt, und es bilden sich zahlreiche Falten.
Bereits auf dieses subtile, feine Stressanzeichen zu reagieren, lässt viele Pferde tief seufzen und freundlicher blicken.
Ich putze meine Pferde manchmal gar nicht, wenn ich merke, dass sie wirklich schlecht drauf sind und herumgifteln. Ich MUSS mit meinen Pferden gar nichts, ich möchte, dass sie Spaß an der Zeit und Arbeit mit mir haben. Merke ich bereits beim Putzen, dass der Haussegen schiefhängt, das Kinn bretthart angespannt ist und sogar die Ohren angelegt werden, sobald ich mit der Bürste putzen will, höre ich ganz genau hin …
Wenn es ganz schlimm ist (und das ist grad bei meinen sehr rückenempfindlichen Stuten jetzt im Winter bei nasskaltem Wetter öfter so), dann höre ich auf zu putzen und mache ein Alternativprogramm. Also spazierengehen oder longieren statt reiten, das geht auch ohne Putzen 😉
Übergehe ich diese Anzeichen, provoziere ich in Folge eine steinharte Muskulatur, was für das Reiten im Anschluss höchst gefährlich ist, weil dadurch auf Dauer auch vermehrt die Gelenke verschleißen (und Arthrose droht). Ganz zu schweigen von den psychischen Auswirkungen, wenn ich andauernd über die Stressanzeichen und Wünsche des Pferdes hinweggehe …
Wichtig ist auch, auf solche subtilen Signale bei Pferden zu achten, die Probleme beim Gurten und Satteln haben. Mehr zum Thema Gurtzwang kannst du hier nachlesen: Pferde mit Gurtzwang: 5 Tipps, um Gurtzwang zu beheben
3. unterschätztes Stressanzeichen: Schnappen
Wenn Pferde beginnen, nach dem Menschen zu schnappen, hört der Spaß auf. Denn keiner will die Zähne des Pferdes spüren, wenn sie zubeißen. Deshalb gibts bei vorsichtigem Schnappen mit den Lippen meist schon gleich eine klare Ansage, um jedes weitere Schnappen oder gar Beißen im Keim zu ersticken.
Schnappt ein Pferd allerdings nach mir, weiß ich zu 100 Prozent, dass ich vorangegangene „leisere“ Hinweise auf Stress, Unbehagen und Schmerzen übergangen habe. Deshalb versuche ich auf Schnappen meist gar nicht zu reagieren, sondern mein Verhalten vor dem Schnappen nochmal zu reflektieren und zu analysieren. Meist komme ich dann recht schnell zum Schluss, dass ich andere drohende Signale übersehen habe 🙁
Schnappt das Pferd allerdings wiederholt, muss man genauer hinhören und hinschauen: Pferde, die immer wieder mal schnappen und dabei vielleicht nur die Kleidung des Menschen erwischen, also nicht bewusst mit den Zähnen zubeißen, wollen sich meist ausdrücken und ihr Befinden kommunizieren.
Genauso wie Pferde höchst individuell auf Stress mit Totenstarre reagieren, gibt es Pferde, die bei Stress sich mit dem Maul ausdrücken, d. h. etwas mit ihrem Maul machen müssen. Das kann – harmlos – das Zähneschleifen an den Gitterstäben am Putzplatz sein oder das Kauen auf dem Anbindestrick. Beim Führen fehlen aber diese „Blitzableiter“ und das Pferd beginnt zu schnappen. Es weiß sich in seinem Stress nur zu helfen, indem es sein Maul verwendet – und das ist dann eben das Schnappen.
Meine vier Pferde zeigen höchst individuelles Stressverhalten:
Cento ist mit seinem großen, fleischigen Maul sehr oral fixiert. In Stresssituationen beginnt er zu schnappen. Bei einem Tellington-Kurs auf meinem Hof brachte ihn nur allein die Anwesenheit der ihm unbekannten Teilnehmerinnen derart in Stress, dass er beim Führen auf unserem Sandplatz ständig nach mir schnappte – das hatte er so gut wie nie mehr gemacht! Im ersten Moment war mir das sehr unangenehm vor den Kursteilnehmern. Im Nachgang des Kurses habe ich seine Reaktion nochmals reflektiert und habe erkannt, dass das sein Ausdruck von höchstem Stress war!
Mein Senior Ronnie war früher im Gelände ein derartiges Nervenbündel, dass er heimwärts nur mehr piaffieren oder im passartigen Laufschritt nach Hause gerannt ist. Galopp in Richtung Stall war immer gestreckter Renngalopp. Was anderes kannte er nicht. Seine Art, auf Stress zu reagieren, war der Fluchtmodus.
Iman ist zwar ein sehr menschenbezogenes, höchst liebevolles Pferd, in Stresssituationen neigt sie aber zu Totenstarre. Vor dem Hänger blieb sie lange Zeit stocksteif stehen. Wir hatten dann auf einem Tellington-Kurs alles ausprobiert, um sie wieder in ihren Körper zurückzuholen. Nur so konnten wir sie auf den Hänger verladen. Sie war in einer völlig anderen Welt. Mittlerweile weiß ich, wie ich sie rechtzeitig aus ihrer Totenstarre herausbekomme, sodass sie gar nicht erst in diesen tiefen Zustand der größten Hilflosigkeit kommt.
Indira reagiert bei Stress mit massivem Muskelzittern (am Hänger) oder mit Strickknabbern (am Putzplatz).
So individuell jedes Pferd ist, so unterschiedlich sind auch die Stressanzeichen bei Pferden. Diese 3 genannten Stressanzeichen sind die am meisten unterschätzten und werden oft als Boshaftigkeit oder Sturheit ausgelegt oder meist gar nicht erst wahrgenommen.
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